Bildung in gemäßigten Breiten
Gemäßigte Breite? Nein, damit mein ich nicht liebevolle Kaltblüter oder sanftmütige Türsteher. Ich rede von dem geographischen Gebiet auf unserer Erde, das klimazonentechnisch zwischen den Subtropen und der sogenannten kalten Zone liegt. Also ganz kurz: da wo wir leben.
Und wenn man nicht gerade als Kind viel umgezogen ist aus irgendwelchen Gründen oder außerhalb unserer Klimazone geboren wurde und aufgewachsen ist, dann sind die 4 Jahreszeiten so normal wie das Amen in der Kirche. Mehr kenne ich dann als Mensch schlichtweg nicht, oder nur aus Büchern und Filmen. Aber dieses Wissen ist meistens nicht geeignet, wenn man zum Beispiel nach seiner Lieblingsjahreszeit gefragt wird.
Bei der Antwort auf diese Frage wählen wir, hier, höchstwahrscheinlich eine aus vier Jahreszeiten aus, wohingegen Menschen in den Tropen sich vermutlich zwischen Regenzeit und Trockenzeit entscheiden. Unsere skandinavischen Mitbürger haben sogar die Wahl aus insgesamt 8 Jahreszeiten. Da gibt es nämlich noch einen Spätwinter, einen Frühsommer, einen Spätsommer und einen Frühwinter hinzu.
Woran liegt das eigentlich? Warum finde ich nicht die Regenzeit am schönsten? Oder den Frühwinter?
Weil ich mich mit den Jahreszeiten, wie mit allen Dingen, die mich prägen und bilden werden, im Rahmen meines Welt- und Selbstverhältnisses auseinandersetze. Dieser Begriff fällt oft, wenn es um die sogenannte transformatorische Bildung geht. Er wurde maßgeblich geprägt von den Erziehungswissenschaftlern Marotzki, Kokemohr und Koller.
Eigentlich geht es um Folgendes: Jeder Mensch hat seinen eigenen Welt- und Selbstbezug und dieser bleibt nicht statisch (im Besten Fall), sondern ändert, also transformiert sich. Und immer wenn das passiert, sprechen wir von Bildung.
Aufmerksame Leser fragen jetzt vielleicht: Aber Moment mal, was ist mit radikalen Linken, Rechten, Verschwörungstheoretiken – sind die auch dabei sich zu bilden? Da verändert sich ja ganz offensichtlich der Welt – und Selbstbezug, aber ist das noch Bildung? Dazu gibt es einen wahnsinnig spannenden Artikel von Winfried Marotzki („Ist jede Transformation als Bildung zu begreifen?“, erschienen in: Verständig et al. (2016): Von der Bildung zu Medienbildung ).
Im Endeffekt ist es so; eine Transformation des Welt- und Selbstbezugs muss diskurserweiternd wirken, und zwar in Richtung Offenheit und Toleranz, damit man laut Definition von Bildung im Sinne Marotzki, Kollers und Kokemohr sprechen kann.
Zurück zu den Jahreszeiten, was hat das jetzt mit Bildung zu tun?
Ich versuche es jetzt mal so zu erklären: Wenn ich Kind bin, dann muss ich zunächst in der Lage sein meine Umwelt wahrnehmen zu können, um überhaupt einen Welt- und Selbstbezug herstellen zu können. Dann beginnt das Spiel und ich bin eigentlich ständig in Wechselwirkung mit der physischen und sozialen Welt um mich herum. Diese Wechselwirkung zwischen mir und der Welt ist übrigens laut dem guten alten Wilhelm von Humboldt die Grundlage für alle Bildungsprozesse, die ich im Laufe meines Lebens durchlaufen werde.
Nun gut, es ist also meinetwegen gerade Sommer. Ich gehe davon aus, dass das die Welt ist, in der ich lebe, es ist warm, ich kann barfuß laufen, es gibt Schatten und Vollsonne, es gibt die entsprechende Flora und Fauna. Alles ist Grün, der Himmel Blau. (Bitte lasst mir den Spaß und hier mal einen Idealsommer zeichnen). Ich kenne nichts anderes. Die Welt ist Sommer. Fertig.
Und dann kommt die Veränderung. Es wird kühler, das Grün verschwindet, es wird bunt und windig. Ich brauche irgendwann Schuhe. Es wird früher dunkel, später hell und und und. Diese vielen kleinen Prozesse, die tagtäglich auf mich einprasseln, verändern meinen Welt- und Selbstbezug. Er transformiert und erweitert sich. Bildung is going on.
Ich stelle mir den Welt- und Selbstbezug gerne wie einen Bilderrahmen vor. Jedes Mal, wenn dieser sich ändert und nach außen hin wächst, dann findet Bildung statt. Beim Lernen hingegen stecke ich ’nur‘ neue Inhalte in den vorhandenen Rahmen. (Hier ist ein Blogartikel zum Unterschied zwischen Lernen und Bildung). Das bedeutet: viel Wissen, muss nicht unbedingt viel Bildung bedeuten. Lernen ist manchmal simpel und Bildung ist immer hochkomplex, hört nie auf, kommt nie ohne Auswirkungen auf die Persönlichkeit aus. Und Bildung braucht Erfahrung. Deshalb beantwortet man die Frage nach der Lieblingsjahreszeit wahrscheinlich mit der Jahreszeit, die man erlebt hat, mit der man in der Lage war in Wechselbeziehung getreten zu sein.
Was wollte ich noch sagen? Ach ja. Meine Lieblingsjahreszeit ist der Herbst. Da bin ich geboren, ich liebe den Wind und die bunten Farben an den Bäumen (natürlich wenn idealerweise die Sonne drauf scheint). Im Sommer ist mir oft zu heiß und auch zu hell. Der Winter ist mir deutlich zu kalt und der Frühling ist meine zweite Wahl, aber irgendwie finde ich den viel anstrengender als den Herbst. Alle sind im Aufräumwahn, Frühlingsgefühle wo man hinschaut. Ich liebe den Herbst, aber kann definitiv allen anderen Jahreszeiten auch etwas abgewinnen.
Dieser Artikel ist Teil der #crazyblogwoche mit Susi und Veronika, bei der wir alle drei in sechs Tagen sechs Artikel schrieben zu einem gelosten Stichwort. Das Stichwort von heute lautet „Jahreszeiten“. Sobald sie veröffentlicht sind, verlinke ich natürlich auch die anderen Artikel hier.
Susi hat dazu diesen Artikel gebloggt: https://susi-haekelt.at/blog-de/tomaten-haekeln
Veronika hat dazu diesen Artikel gebloggt: https://leadlikeamom.com/es-ist-nur-eine-phase-das-gilt-auch-fuer-projekte-und-teams/
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