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Warum mich ein Arztbesuch an Schule erinnert.

„Ich sehe das ganz anders als sie und kann ihre Meinung überhaupt nicht teilen. Ich denke, dass sich unsere Menschenbilder radikal voneinander unterscheiden. Ich frage meine Tochter ganz bewusst, weil ich ihr Einverständnis voraussetzen möchte, weil ich ihr die Entscheidung zutraue und weil ich glaube, dass Kinder immer kooperieren, wenn wir Erwachsenen sie lassen.“ sprach ich mit FFP2 Maske, sitzend in einer bestimmt zweckmäßig, aber steril und abschreckend wirkenden Mini-Hörkabine beim Kinder(!)-HNO-Arzt. Vor mir die Frau des Arztes, die sich offensichtlich auf Bürotätigkeiten und Hörtests spezialisiert hat. 

Was war dem voraus gegangen?

Wie komme ich eigentlich dazu mit der „Arztfrau“ (wie meine Tochter sie später im Auto nannte, als sie sie zum Mond gepustet hat) über Kindererziehung oder Menschenbilder zu sprechen? Tja, das lag daran, dass meine Tochter sich geweigert hatte in dieser Untersuchung zu 

„funktionieren“. Sie wollte sich erst nicht in die Ohren schauen lassen und dann auch nicht alleine in einen winzig kleinen, komisch anmutenden Raum mit einer wildfremden, unsympatischen Frau gehen. Was für ein merkwürdiges Kind….

Ich hatte im Vorfeld alle Register gezogen von Kooperation bis Manipulation (Ich kaufe dir auch ein Heftchen!) war alles dabei. Mit pädagogischem Ruhm habe ich mich die ersten zehn Minuten sicherlich nicht bekleckert, aber ich habe auch keine Chance verstreichen lassen. Mein Problem war nur:

Ich war zu sehr bei der Arztfrau

Tatsächlich, das war total doof von mir und meine 5jährige Tochter ist mir in puncto Menschenkenntnis einfach irrsinnig voraus. Ich hatte noch, mit meiner eigenen eingesessenen Erziehungserfahrung zum Gehorsam, versucht die Situation zu deichseln. Da gab es ja einige Punkte, die wir wahrscheinlich alle eingetrichtert bekommen haben:

  • Der „Herr Doktor“ und auch die „Frau Herr Doktor“ haben sich ja extra Zeit genommen.
  • Das sind  ja ganz wichtige Menschen, deren Zeit ist wertvoller, als deine.
  • Als Kind muss man eben auch mal gezwungen werden und einfach machen was gesagt wird.
  • Es gibt ein Machtgefälle zwischen Kind und Erwachsenem, ist halt so.
  • Du bist eine schlechte Mutter, wenn du dir so auf der Nase herumspringen lässt.
  • Eigentlich auf ganzer Linie versagt.
  • Guck dir die erfolgreich „FrauHerrDoktor“ an, mit der macht man sowas nicht.

Undsoweiterundsofort. Zugebenermaßen vermischt sich da auch so einiges. Aber es spiegelt die Stimmung ganz gut wieder. Die FrauHerrDoktor mit latent genervtem Unterton, schickt mich also aus der Hör-Kabine, Corona und so, keiner Raum, viel Atem sagt sie, was sie nicht sagt, aber was mindestens genauso zutrifft ist  ihr Hang zum bestimmen und zum über andere hinwegsetzen. Ich (wegen oben genannten Punkten noch im Programm „funktionieren müssen“ gefangen) verlasse tatsächlich den Raum. Meine Tochter fängt an zu weinen. Das höre ich, aber wegen der Schallsuperisolation höre ich zum Beispiel nicht das, was mir meine Tochter später im Auto erzählt: „Mama, die hat bis drei gezählt….warum macht die das?“. High Five an mein Kind. High Five an mich. Liebe HerrFrau Doktor, einmal zurück nach 1950 bitte. Ach nein, wir haben dich danach ja auf den Mond ausgeatmet. Das ist genauso gut wie 1950.

Es geht ja plötzlich doch

Nach 3 Minuten Abbruch der Wein-Situation. Meine Tochter kommt raus. FrauHerrDoktor immer angespannter, bittet uns nun mit gnädigem Unterton beide in die Hörkabine. Es geht ja plötzlich doch. Es ist doch Corona.

Wir haben also die Ehre

Wir dürfen rein. Danke danke danke! HerrFrauDoktor geht mal kurz raus. Wahrscheinlich hat sie kurz in die Tischplatte am Behandlungstresen gebissen. Egal.

Und in diesem Moment passiert ES

Ich ERKENNE die Situation. Ich steige aus, aus meiner eigenen Befangenheit und diesen Mustern, die sich so fies mies tief einschleifen können. 

Was war der Knackpunkt? Warum wurde ich „wach“?

  1.  Ich habe diese Frau und ihre Art richtig wahrnehmen können und konnte meine Tochter sofort absolut fühlen und verstehen.
  2. FrauHerrDoktor stellte uns ein Holzbrett mit Holzzylindern hin, die wir „da mal reinstellen sollen – aber Amber mehr als sie Frau Hasler!“. Wenn ich eins hasse, dann blinden Gehorsam, BallaBalla-Aufträge und wenn sich mein Gegenüber noch nicht mal die Mühe macht, mir zu erklären wozu das gut sein soll. Auch wenn das im weiteren Verlauf der Untersuchung eventuell Sinn gemacht hätte.
  3. Mein Tochter: die sofort aus dem Weinen ausgestiegen ist und auf meinem Schoß saß und ich wusste, der weitere Verlauf dieser Situation ist wichtig für uns BEIDE.

Also passierte Folgendes:

Solange FrauHerrDoktor beim Tischkantenbeißen war, sagte ich folgendes zu Amber:

„Pass auf, ich kann dich verstehen. Du musst das nicht machen. Der Hörtest ist wichtig. Aber wir können einen neuen Termin dafür vereinbaren. Es ist kein Problem, du darfst das entscheiden.“

Vermutlich war HerrFrauDoktor doch nicht beim Tischkantenbeißen, ich vermute sie hat eher von der Außenseite an die schallisolierte Wand des Hör-Kabuffs geschlagen, jedenfalls war das offenbar ihr Stichwort, denn sie kam rein und sagte ihr komplettes defizitär orientiertes Mindset offenbarend:

„Na, da sind ja noch nicht so viele Holzklötze drin. Das solltest du doch machen Amber.“

Und in diesem Moment, liebe FrauHerrDoktor, falls du das hier jemals liest, in diesem Moment war dein Schicksal besiegelt. 

Ich also „FrauHerrDoktor, ich denke wir können an dieser Stelle abbrechen.“

Sie: „Ja, war gerade gucken, wir könnten sie (freundlich-gnädiger Tonfall) morgen um 9 Uhr dazwischen schieben.“

Ich: „Amber, möchtest du es morgen wieder versuchen?“

Und dann fällt mir diese empathische Nullnummer doch ins Wort und erzählt mir in einem unsäglichen Monolog, dass ich nicht fragen dürfe, dass sei ja meine Entscheidung, nicht die vom Kind, daher käme ja die Verunsicherung im Kind, dieses Fragen, das sei ja schließlich auch ein Arzttermin und alle hätten sich Zeit genommen und der „Herr Doktor“ wolle ja eigentlich auch nochmal in die Ohren gucken und ich habe nun zu sagen, dass der Termin morgen stattfinde und basta.

Leider sieht man unter der FFP2 Maske kein energiegeladenes Lächeln

Aber, wäre die Maske nicht gewesen, hätte ich sie glaub ich verbal aus der schallisolierten 5fach-Verglasung der sich hinter ihr angebrachten Scheibe gepustet. Von daher, schade um meine Mimik aber dafür weniger Stress mit der Haftpflicht.

Und dann sprach ich die Wörter, die ganz am Anfang dieses Artikels stehen. 

Ich sprach sie langsam, mein Lächeln wippte auf jeder Silbe fröhlich mit und mein Blick fixierte die glanzlosen Augen meiner Kommunikationspartnerin.

Dass mein tischkantenbeißendes, Kopf gegen schallisolierte Wände schlagendes Gegenüber das nicht fassen konnte, sah man ihr auch trotz FFP2 Maske an. Und das sie es überhaupt nicht kapiert hatte, merkte man daran, dass sie sagte:

„Vielleicht möchte Amber ja nochmal diesen Kopfhörer hier aufsetzen.“ und mir dabei den Kopfhörer reichen wollte.

Das war doch nicht zu fassen. Ich, bewusst provokativ, langsam, drehe mich zu meinem Kind und frage sie:

„Möchtest du diesen Kopfhörer aufsetzen?“. Das Kind sagt nein.

Ich akzeptiere und respektiere diesen Nein mit noch größerer Freude als sonst und nehme den Kopfhörer gar nicht erst entgegen.

F. u. FFP 2

Was Fuck You FFP2 heißen könnte, aber hier meine ich „Frust unter FFP2“ – ist echt mies wenn man seinen eigenen Mief und die eigenen vergifteten Wörter immer wieder ganz alleine einatmen muss.

Jedenfalls bringt sie es echt fertig noch einmal nachzufragen, ob ich den Termin jetzt morgen haben wolle.

Ist das zu fassen. Wie stumpf kann man sein. Und ich so: „Sie haben doch meine Tochter gehört, wir nehmen den Termin nicht.“

Ich stehe auf und gehe, bedanke mich für die Mühe, was glaub ich zu einer klimatischen Katastrophe unter der FFP2 Maske der ArztFrauDoktor geführt hat. Jedenfalls konnte sie nicht mehr richtig sprechen und hat irgendwas Unverständliches in ihre Maske genuschelt.

Ich könnte jetzt Rückschlüsse auf ihre Erziehung ziehen, aber es lassen wir das.

Mich erfüllt die Geschichte mit Stolz

Das klingt vielleicht doof, denn Stolz ist oftmals auch ein erhabenes Gefühl, das nicht immer auf Augenhöhe funktioniert. Aber ich habe während dieses Termins so viel gelernt und ich bin dankbar für diese Chance. Hier meine Highlights: 

  1. Ich konnte trotz eigener Glaubenssätze und meiner eigentlichen Absicht (diesen Test hinter uns zu bringen) bei meinem Kind bleiben.
  2. Ich habe mich nicht von einer vermeintlichen Autorität einschüchtern lassen oder mich zu ihrer Helfershelferin machen lassen.
  3. Weder ich noch meine Tochter haben die nicht auf Augenhöhe beruhende Kommunikation wortlos hingenommen. 

Den Moment, indem ich mit meiner Tochter die mittlerweile dunkle Kopfsteinpflasterstraße außerhalb der Praxis betrete, werde ich nie vergessen:

Ich knie mich zu ihr runter, schau ihr in die Augen und sehe so viel Wachheit, Stärke, Besonderheit. Ich fasse sie links und rechts an den Schultern und sage: „Weißt du was, du hast das richtig gut gemacht. Ich war leider nicht so schnell wie du, es tut mir leid, dass ich dich in diesem Raum alleine gelassen habe.“. Und sie sagt:

„Du hast das auch gut gemacht, Mama.“

Ach ja, und nun habe ich fast vergessen den Bogen zu schließen:

Was hat das mit Schule zu tun?

In meinen Augen jede Menge. Auch in Schule gibt es Machtgefälle, auch diese werden immer wieder oder immer noch ausgenutzt. Die FrauArztDoktor hat ihr Verhalten ja auch irgendwo her. Ihr fehlen einfach andere Strategien, andere positive Erfahrungen auf Augenhöhe mit Kindern. Das ist traurig und das erinnert mich an Schule. Sobald man dort anfängt bindungsorientiert zu arbeiten und, so wie mein großes Vorbild Jesper Juul zu erkennen, dass Kinder immer kooperieren und das wir Erwachsenen die Verantwortung für die Situation und für die Beziehung tragen, ändert sich so vieles. 

Das Schulsystem zu ändern ist ein großer Schritt, aber wir können das System im Klassenzimmer jeden Tag verändern. 

Und das ist ein Anfang.zufir

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