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„Lehrkräfte haben vormittags recht und nachmittags frei!“ Warum mich Vorurteile über Lehrkräfte richtig annerven!

Ok, da müssen wir jetzt alle durch. Es folgt ein Rant. Ein Rant auf das Bildungs- und Schulsystem, seine Akteure, die liebe Gesellschaft drum herum und warum mich Vorurteile über Lehrkräfte schon seit Jahren richtig richtig annerven.

Lehrkräfte haben vormittags recht und nachmittags frei

Na, wer hat das schon mal gehört? Oder gedacht? Wer hat sich schon mal richtig aufgeregt darüber, dass die Mehrheit der Lehrkräfte verbeamtet ist, 15 Wochen im Jahr frei und meistens um 13 Uhr Feierabend hat? Dann sind die alle auch noch privat versichert und bekommen viel schneller wichtige Termine in medizinischen Praxen. Es hackt wohl! Was für eine schreiende Ungerechtigkeit!

Zum Haare raufen

Finde ich das. Zum aus der Haut fahren. Nein, nicht was da steht, sondern dass das immer noch Menschen glauben!

Wer das behauptet und in den Raum stellt, an den würde ich gerne einige Fragen richten:

 

  • Hast du eigentlich schon mal als LehrerIn gearbeitet oder eine Schule vormittags bei Hochbetrieb von innen gesehen?

 

  • Was machst du nochmal beruflich? Bist du richtig glücklich mit deiner Berufswahl oder würdest du dich vielleicht auch gern mal als LehrerIn (würde ich gern in Kombination mit dem Punkt oben gerne wissen) versuchen?

 

  • Was trägst du dazu bei, dass das Bildungssystem besser gelingt, dass jeder Mensch eine Grundbildung als sogenannte Sicherung des bildungsrechtlichen Existenzminimus erfährt? Und nein, ich meine nicht, dass wir alle LehrerInnen werden müssen oder im Bildungssystem arbeiten sollen, aber ganz profaner Vergleich: Vor dem Fernseher lassen sich immer die besten Tipps geben; was der Kandidat bei ‚Wer wird Millionär?‘ hätte antworten sollen oder wie Toni Kross den Freistoß besser hätte schlenzen können.

Das Problem mit dem Betrachten von Außen

Ist nämlich, dass von außen betrachtet die meisten Dinge sehr viel einfacher aussehen, als sie es tatsächlich sind. Und im Bereich Schule kommt noch erschwerend hinzu, dass jeder Mensch (zumindest hier im deutschsprachigen Raum) schon mal in der Schule war. Das verleitet leider noch schneller zu Urteilen und Bewertungen, manchmal leider recht wenig mit der Realität zu tun haben.

Jede/r von uns hat auch schonmal einen Brief aufgegeben. Ich komme trotzdem nicht auf den Gedanken, den Postboten zu belehren wie er das noch besser machen könne. Um nur nochmal ein vielleicht etwas schräg anmutendes, aber immerhin plakatives Beispiel aus dem Alltag zu bemühen.

Der Wahnsinn der Übergriffigkeit: jede/r weiß es besser

Ich finde wirklich, dass das Schul- und Bildungssystem mit seinen AkteurInnen am meisten einstecken muss, wenn es darum geht dass jede/r eine Meinung, eine Wahrheit und einen genialen Verbesserungsvorschlag hat. 

Wahnsinn ist das! Und dann kombiniert mit dieser latenten Unterstellung, dass man als Lehrkraft sich ja wirklich nicht beschweren könne. 

Wirklich nicht, bei den Ferien und dem Gehalt und überhaupt.

Ich habe damit zwei große Problem, denn es gibt beides bei Lehrkräften

Meine Probleme liegen auch noch diametral auseinander, was wahrscheinlich sogar erst dazu führt, dass es zu diesem Rant hier kommen konnte.

Die meisten LehrerInnen die ich kenne haben eine 50-Stunden-Woche

Ja, und das ist wirklich wahr. Und die Zahl ist noch nicht mal aus dem alltagsevidenten Hut gezaubert, sondern in einer GEW-Studie aus dem Jahr 2015/16 bestätigt worden. Hier gibt es einen schönen Artikel aus der Süddeutschen dazu. 

Die Anforderungen und Belastungen an Lehrkräfte sind dabei so vielfältig, dass ich sie unmöglich alle hier aufzählen kann. Aber bitte, die unvollständige Liste:

  • Lehrkräfte vermitteln Fachinhalte, Strukturen, Lernstrategien, Werte, soziale Regeln, Empathie.

 

  • Lehrkräfte sind oftmals die einzige verlässliche Konstante für viele Kinder auf einmal, das bedeutet Verantwortung und emotionale Belastung.

 

  • Lehrkräfte sind Teamplayer, die ständig gemeinsame Ideen entwickeln, sich über einzelne SchülerInnen austauschen, mit Eltern sprechen, zuhören, konferieren.

 

  • Lehrkräfte sind Kreativmeister auf allen Ebenen, egal ob es um Unterrichtsstörungen, Zeitmanagement, die neue Sitzordnung oder – brandaktuell: die Umsetzung von Hygienemaßnahmen – betrifft.

Es ist eine Frechheit diesen Lehrkräften Bequemlichkeit und viel Freizeit zu unterstellen

Ich habe erst gestern (Freitag) am Nachmittag zwei Klassenkonferenzen beigewohnt und abends um 18 Uhr eine Onlinekonferenz einberufen, um den Eltern meiner neu übernommenen Klasse die Möglichkeit zu geben mich mal zu sehen. Wenn ich diesen Artikel beendet habe, werde ich mir die Korrektur der HWS-Wochenarbeiten vornehmen. Just saying. Und ich bin alles andere als allein.

Und weil ja Partys aller Art für die nächste Zeit coroanabedingt ausfallen, muss ich dann auch nicht tief durchatmen, wenn ich bei dieser Gelegenheit mal wieder höre:  „Ach, du bist Lehrerin, das wollte ich auch mal machen, toll, wie viel Zeit man da für die Familie hat!“.

Soviel zu Aufreger Nummer 1. Aber der wird leider paradoxerweise von Aufreger 2 ergänzt. Und ich weiß nicht, was ich schlimmer finden soll.

Manchmal stimmen diese Vorurteile einfach: Es gibt Lehrkräfte, die die Welt nicht braucht

Leider ja, ich würde ja gerne was anderes sagen, aber das wäre gelogen. Es gibt KollegInnen, die haben tatsächlich vormittags recht und nachmittags frei. Die nutzen das Machtgefälle zwischen LehrerIn/SchülerIn zu ihren Gunsten aus. Die überlegen sich immer erst 5 vor 8, was sie heute eigentlich machen wollen – wenn sie überhaupt um 5 vor 8 schon in der Schule sind…

Sie machen, wie man das so nennt, „Dienst nach Vorschrift“, nicht unbedingt weniger, aber auf keinen Fall mehr. Sie verpassen überhäufig die Pausenaufsicht,  die Konferenzen und den Schulentwicklungstag. Sie verbreiten permanent schlechte Laune, weil sie einfach satt von Schule sind. Die innere Kündigung ist schon vor Jahren erfolgt und vielleicht gab es oder gibt es auch den Wunsch endlich „aus Schule rauszukommen“. Aber dann lockt da das Gehalt und dass einem eigentlich keiner was kann und die Pension und die Sicherheit und und und…

Empathisch gedacht gibt es sicherlich auch für diese KollegInnen Gründe, weshalb sie so sind und handeln. Enttäuschte Erwartungen, permanente Überforderung, weil die eigene Persönlichkeit den einfach nicht für Schule gemacht ist und und und.

ABER: Es ist das große Problem des Schulsystems, Lehrkräfte schnell so fest zu binden, dass sie auch bei Nichteignung ewig im System bleiben. Die faktische Unkündbarkeit einer verbeamteten Lehrkraft ist in meinen Augen ein großes Problem für die Neugestaltung von Schule.

Schule ist Teil der Gesellschaft. Diese ist hochdynamisch. Schule ist das nicht. Schule ist langsam und starr. 

Schule heute ist, als würde man die Hauptrolle in einer Schwanensee – Aufführung mit einer 80jährigen besetzen

Wieder einer dieser Vergleiche….ich weiß. Aber wirklich. Die verwandelte, verwunschene Prinzessin Odette nicht im Körper einer 20jährigen Prima Ballerina, sondern im Körper einer 80 jährigen Prima Ballerina (ja, so alt ist in etwa unser derzeitiges Schulsystem!). Technik und Erfahrung sitzen, aber die PS kommen einfach nicht mehr auf die Bühne.

Egal wie brillant Bühnenbild, Orchester und das restliche Ensemble ist: das wird ein langer Abend.

Das Schul- und Bildungssystem muss sich dringend verjüngen, flexibler werden  und alte Strukturen loslassen.

Die Hoffnung stirbt zuletzt – wir brauchen mehr LehrerInnen aus Leidenschaft

Vielleicht gibt es dann auch irgendwann keinen Grund mehr für diesen Rant. Weil der LehrerInnenberuf einfach wieder die Menschen anzieht, die wirklich genau dort hinwollen

Übrigens ist es gar nicht mehr so unüblich sich vom Lehrerberuf zu verabschieden. Wie bereits oben beschrieben, ist man als Lehrkraft ein Multitalent mit Hochschulabschluss. Man muss sich nicht durch die Schule quälen. Sehr aufschlussreich dazu ist die Seite von Isabell Probst nebst ihrem Podcast „Life after Lehramt“.

 

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